Steer-by-Wire – thyssenkrupp schlägt innovativen Weg in der Entwicklung ein
Steer-by-Wire steht unmittelbar vor dem Durchbruch zum Serieneinsatz. Die innovative Technologie kann wegen ihrer Auswirkungen und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten als geradezu revolutionär bezeichnet werden. Umso mehr, weil sich thyssenkrupp für einen ganz eigenen Entwicklungsansatz entschieden hat.
Nicht nur im Zusammenhang mit der Entwicklung des hochautomatisierten oder sogar komplett autonomen Fahrens spielt Steer-by-Wire (SbW) eine zentrale Rolle. Auch in anderen Bereichen bietet das Übertragen der Lenkimpulse rein über elektrische Signale vielfältige Möglichkeiten. So erlaubt die fehlende mechanische Verbindung zwischen Lenkrad und gelenkten Rädern bislang ungeahnte Freiheiten im Fahrzeugdesign. Auf ein und derselben Plattform können zahlreiche Fahrzeuggattungen und -layouts entstehen. Ob vorn links oder rechts, exakt in der Fahrzeugmitte oder theoretisch sogar von der Rückbank: Die Frage, von welcher Position aus das Fahrzeug gelenkt wird, ist dabei vollkommen unerheblich. Die Steer-by-Wire-Technologie erlaubt praktisch jede denkbare Konstellation. Und vielleicht auch die ein oder andere heute noch undenkbare.
Nach zahlreichen entscheidenden Entwicklungsfortschritten in der jüngeren Vergangenheit steht die Revolution des Lenkens kurz vor dem Durchbruch zum Serieneinsatz. Bislang einzige Serienfahrzeuge mit dieser Technologie sind die 2013 vorgestellte Limousine Infiniti Q50 und das davon abgeleitete Coupé Infiniti Q60 (seit 2016). Als reine Steer-by-Wire-Fahrzeuge können sie dabei allerdings nicht gelten. Denn sie verfügen über eine mechanische Rückfallebene. Die ersten Serienmodelle, die ausschließlich auf Steer-by-Wire vertrauen, werden voraussichtlich ab 2023 folgen. Produziert werden sie zunächst wahrscheinlich nicht von klassischen OEMs. Sondern von Start-ups und anderen „Quereinsteigern“ in die Automobilindustrie. Laut vorsichtigen Schätzungen werden bis 2030 weltweit rund eine Million Steer-by-Wire-Fahrzeuge auf den Straßen unterwegs sein.
thyssenkrupp geht eigenen Weg bei Hardware sowie High-Level- und Low-Level-Software
Die zentralen Themen bei Steer-by-Wire sind zweifellos die Sicherheit und das Lenkgefühl. Beide tragen zur Akzeptanz dieser Technologie auf Seiten der OEMs und Kunden bei und beschleunigen den Durchbruch. Die Art und Weise, wie ein Auto lenkt und welche Rückmeldung zu Straßen- und dynamischem Fahrzeugzustand eine Lenkung vermittelt sind ihre wesentlichen Charakteristika. Und zählen für Fahrzeughersteller zu den Unterscheidungsmerkmalen „ihrer“ Marke. Der Detailarbeit fällt somit besondere Bedeutung zu. Denn es gilt die sehr individuelle sogenannte Lenkungs-DNA eines OEM so perfekt wie möglich mit einem Steer-by-Wire-System abzubilden.
Wegen der fehlenden mechanischen Verbindung zwischen den Rädern und dem Lenkrad muss das Soll-Moment somit zunächst berechnet und anschließend am Lenkrad dargestellt werden. Zur Definition des Soll-Moments werden verschiedene Sensorwerte genutzt. Einige andere Größen müssen zusätzlich über eine Berechnung abgeschätzt werden. „In diesem sogenannten High-Level-Software-Bereich gehen wir bereits einen etwas anderen Weg als die meisten unserer Mitbewerber“, erklärt Kristof Polmans, SVP Research and Advanced Engineering bei der Lenkungssparte von thyssenkrupp. „Wir legen den Fokus weniger darauf, die auf die Räder wirkenden Kräfte direkt ans Lenkrad weiterzuleiten. Sondern stärker darauf, die Momente am Lenkrad auf Basis anderer Werte unabhängig zu berechnen und somit das Straßenfeedback nur indirekt zu generieren. Damit erreichen wir ein robustes Lenkgefühl mit sehr viel Tuning-Freiheit. Gleichzeitig bilden wir trotzdem die notwendigen Straßenrückmeldungen ab, die der Kunde braucht.“
Auch im Bereich der Low-Level-Software, also dem Stellen des Soll-Moments, geht thyssenkrupp einen neuen, individuellen Weg. Dies hängt unmittelbar mit dem Hardware-Layout zusammen und wird nur durch diese Gesamtsystemlösung ermöglicht. „Unsere Überlegung war: Wenn wir schon eine völlig neue Technologie entwickeln, sollten wir am besten mit einem komplett weißen Blatt Papier beginnen“, so Polmans. Statt also wie die Mehrheit der Wettbewerber die Steer-by-Wire-Technologie auf die bestehende Infrastruktur konventioneller elektronischer Lenkunterstützungssysteme aufzusetzen, machte thyssenkrupp seine mechanische Lösung komplett unabhängig davon. Somit findet sich in der Steer-by-Wire-Lösung von thyssenkrupp beispielsweise kein Schneckenrad-Getriebe. Das müsste einen Momenten-Sensor als Kontrollinstanz zur Seite gestellt bekommen. Denn die inkonstante Reibung, die auf Fertigungstoleranzen in der Massenfertigung zurückzuführenden großen Schwankungen in verschiedenen Bereichen sowie der unvermeidbare mechanische Verschleiß resultieren in der Notwendigkeit eines geschlossenen Regelkreises. „Statt dieses klassischen Feedback-Regelungsansatzes, bei dem die ermittelten Werte kontinuierlich nochmals kontrolliert werden müssen, setzen wir auf eine Feedforward-Regelung“, verdeutlicht Polmans. „Unser System erweist sich durch den Verzicht auf unnötige elektrische Komponenten sowie dank unseres eigenen High- und Low-Level-Software-Ansatzes als stabiler, robuster sowie weniger anfällig für Fehler und Qualitätsprobleme in der Massenfertigung.“
Vehicle Motion Control als Mittel der Redundanz
Lenksysteme sind für OEM und Fahrzeughersteller ein integrativer Bestandteil eines übergeordneten Systems. Steer-by-Wire ist deshalb bei thyssenkrupp Teil der Vehicle Motion Control (VMC). Statt nur die Domäne Lenkung im Auge zu haben, gilt der Blick somit stets dem fahrdynamischen Gesamtkonzept. Das wirkt sich nicht zuletzt auch auf das Thema Redundanz aus. Statt Funktionen mit mechanischen Lösungen oder Systemdoppelungen abzusichern, nutzt thyssenkrupp ohnehin vorhandene Komponenten anderer Fahrzeugsysteme. So lassen sich clever „alternative Lenkfunktionen“ erzielen. Genutzt werden dazu beispielsweise die Bremsen, der Antriebsstrang sowie die Komponenten eines aktiven Fahrwerks, einer Allrad- beziehungsweise Hinterradlenkung oder auch aktive Stabilisatoren. Dieser ganzheitliche Systemansatz von thyssenkrupp ermöglicht nicht nur eine platz- und kostensparendere Lösung. Sondern vor allem auch eine, die verschiedene sicherheitsrelevante Herausforderungen löst und eine höhere Verfügbarkeit gewährleistet.
Modular Research Platform als eines der Erfolgsgeheimnisse
Die in der jüngeren Vergangenheit erzielten Entwicklungsfortschritte in den Bereichen Steer-by-Wire und Vehicle Motion Control lassen sich zu einem Großteil auch auf ein zusätzliches Entwicklungstool zurückführen, das thyssenkrupp seit einigen Jahren erfolgreich einsetzt: die Modular Research Platform (MRP). Die im Automotive-Bereich traditionelle Entwicklungs- und Testabfolge aus Simulation, Prüfstandarbeit sowie Fahrversuchen mit einem spezifischen Modell oder einer spezifischen Fahrzeuggattung birgt verschiedene Nachteile in sich. So besteht zwischen den aus Simulationen und aus der Prüfstandarbeit gewonnenen Ergebnissen eine nicht immer eindeutige Korrelation. Bei Fahrversuchen mit einem spezifischen Modell fehlen Flexibilität und Modularität. Diese eliminiert die Modular Research Platform von thyssenkrupp, weil mit ihr sämtliche Chassis-Architekturen möglich sind – gänzlich ohne jedwede Einschränkungen in puncto Bauraum oder ähnlichem. Die Vorteile, die sich damit auch in der Entwicklungsarbeit für Steer-by-Wire erzielen lassen, blieben nicht verborgen: Aktuell baut thyssenkrupp drei weitere MRPs – zwei davon im Kundenauftrag.