Verstaubare Lenksäule für das Auto der Zukunft
Autonome Fahrfunktionen werden das Autofahren, wie wir es heute kennen, revolutionieren. Für die Entwickler der Automobilindustrie bedeutet dieser Megatrend ganz neue Herausforderungen, insbesondere in Bezug auf die Gestaltung des Innenraums. Ein Akteur, der den Wandel aktiv mitgestaltet, ist thyssenkrupp Steering. Mit der sogenannten Stowable Steering Column, der verstaubaren Lenksäule, ermöglicht der Lenkungsspezialist seinen Kund:innen aus der Automobilindustrie völlig neue Interieurkonzepte. Und das nicht nur für das autonome Fahren.
Ein deutscher Premium-Automobilhersteller hat den Anfang gemacht: Dessen neue Oberklasse-Limousine wird für das hochautomatisierte Fahren nach Level 3 der renommierten SAE ("Society of Automotive Engineers") bis 130 km/h zertifiziert sein. Es ist ein entscheidender Schritt hin zum komplett autonom fahrenden Automobil. Weitere Stufen werden folgen. Zunächst Level 4, bei dem Fahrer:innen die Fahrzeugführung komplett abgeben und zu Passagieren werden können, während das Fahrzeug bestimmte Strecken völlig selbstständig fährt. Weiter in der Zukunft liegt das autonome Fahren nach SAE-Level 5. Hier übernimmt das Fahrzeug alle Aufgaben selbsttätig, die Passagiere können sich zurücklehnen.
Neue Fahrzeugkonzepte erfordern neue Lenksysteme
Doch bereits die Automatisierungslevel SAE 3 und 4 werden neue Fahrzeugkonzepte erfordern, die einen erheblichen Einfluss auf das Lenksystem der Zukunft haben werden und neue Lenkfunktionen möglich oder gar notwendig machen. Als einer der weltweit größten Hersteller von Lenksystemen mittendrin: thyssenkrupp Steering. Eine besonders spannende Innovation an der die Lenkungsspezialisten arbeiten, ist die verstaubare Lenksäule („Stowable Steering Column“, SSC).
Ein System, das für den Experten im Bereich der Lenksäulen von größter Wichtigkeit ist, wie Gerhard Waibel betont. „Wir haben sehr früh das Potenzial verstellbarer oder gar komplett verstaubarer Lenksäulen erkannt und entwickeln bereits seit 2016 entsprechende Systeme“, so der Gesamtverantwortliche für die Vor- und Applikationsentwicklung von Lenksäulen bei thyssenkrupp Steering. „Durch den starken Push des automatisierten Fahrens sowie den Bedarf an neuen Interieurkonzepten hat das Thema stark an Fahrt aufgenommen.“ Die ersten Konzepte wurden auf der IAA in Frankfurt 2017 präsentiert, später auch auf der North American International Auto Show (NAIAS) in Detroit. Außerdem entwickelten Waibel und sein Team die Systeme in mehreren Entwicklungskooperationen zusammen mit führenden Automobilherstellern (OEM) weiter. Alle Systeme sind dabei mit der Steer-by-Wire-Technologie kompatibel, die ohne eine mechanische Verbindung zwischen Lenkrad und gelenkten Rädern auskommt und bei der die Lenkbefehle ausschließlich elektrisch zum elektromechanischen Aktor weitergegeben werden.
Innovative Lenksäulenkonzepte für das Auto der Zukunft
Für Level 3 des automatisierten Fahrens haben die Lenkungsspezialisten die sogenannte „Extended Steering Column“ (ESC), eine verstellbare Lenksäule, entwickelt. „Bei diesem System können Autofahrer:innen das Lenkrad elektrisch nach vorne in Richtung Motorraum fahren lassen“, erklärt Daniel Kreutz. Der Ingenieur ist als Teamleiter in der Abteilung von Gerhard Waibel zuständig für die Entwicklung der verstaubaren Lenksäule und der Standardisierung von elektrisch verstellbaren Lenksäulen-Komponenten. „Das Lenkrad ist in dieser Situation immer noch voll erreichbar und voll drehbar", so Kreutz weiter.
Während Fahrer:innen das Lenkrad durch Vorbeugen jederzeit erreichen können, wenn dies notwendig sein sollte, ist die komplett verstaubare Lenksäule die logische Weiterentwicklung. Kreutz: „Bei der SSC fährt das Lenkrad je nach Fahrzeugarchitektur um bis zu 250 mm nach vorne und kann je nach Anforderung komplett im Cockpit verstaut werden. Diese Lösung sehen wir dann hauptsächlich für Level-4-Fahrzeuge, die hoch automatisiert fahren.“ Seit 2016 entstanden bei thyssenkrupp Steering mehrere Lösungen, die sowohl in Fahrsimulatoren und Demonstratoren als auch in Versuchsfahrzeugen erprobt wurden.
Autonomes und automatisiertes Fahren: Fahrzeug-Interieur gewinnt erheblich Bedeutung
Mit dem automatisierten und autonomen Fahren gewinnt das Fahrzeug-Interieur enorm an Bedeutung. Wer den Verkehr nicht mehr durchgehend im Auge behalten und das Fahrzeug führen muss, hat schließlich mehr Möglichkeiten, andere Dinge zu tun. Komfort- und Entertainment-Features rücken in den Mittelpunkt. Verstellbare und verstaubare Lenksäulen sind dann zentrale Elemente, die neue Interieurachitekturen erst möglich machen. Daniel Kreutz: „Zukünftig hat man während des autonomen Fahrens die Möglichkeit, das Lenkrad weiter nach vorn zu positionieren, sodass man als Fahrer:in wesentlich mehr Platz zur Verfügung hat.“ Platz zum Beispiel zum Arbeiten an einem aus dem Armaturenbrett herausfahrenden Schreibtisch etwa. Oder für Vordersitze, die sich drehen lassen.
Mit der Elektromobilität bringt Daniel Kreutz einen weiteren, im ersten Moment überraschenden Bereich ins Spiel: „Auch wenn ich mein Fahrzeug parke, oder wenn ich mein E-Auto an der Ladesäule auflade, kann ich mir als Autofahrer durch diese neuen Interieurkonzepte mehr Platz verschaffen und die Zeit besser nutzen.“
Große Herausforderungen – geniale Lösungen
Für die Entwicklung der revolutionären Lenksäulensysteme mussten die Lenkungsspezialisten bei thyssenkrupp Steering zahlreiche Herausforderungen meistern. Ein Thema bei der Vorentwicklung etwa war die Verstellgeschwindigkeit. „Bei konventionellen Lenksäulen sprechen wir von Verstellgeschwindigkeiten von 10 bis 12 mm/s“, so Gerhard Waibel. Bei der ESC und der SSC sind die Anforderungen an die Verstellgeschwindigkeit jedoch deutlich höher. „Hier mussten wir die Geschwindigkeiten bei den Antrieben signifikant erhöhen. Bei der verstaubaren Lenksäule sprechen wir über Geschwindigkeiten von 40 bis 60 mm/s. Und solche Verstellantriebe gab es bis dato gar nicht auf dem Markt. Wir haben uns deshalb stark damit beschäftigt, Lösungen zu entwickeln, die diese Geschwindigkeitsbereiche darstellen können.“
Eine weitere Herausforderung stelle der beschränkte Bauraum dar. „Die Bauräume im vorderen Teil des Fahrzeugs sind relativ stark umkämpft“, verrät Gerhard Waibel. „Da können wir es uns nicht erlauben, zu viel Platz in Anspruch zu nehmen.“ Um große Verstellwege von bis zu 250 mm sozusagen bauraumneutral realisieren zu können, konzipierten die Entwickler:innen deshalb mehrfach teleskopierbare Varianten. „Mit dem von uns entwickelten Baukasten haben wir auch die Möglichkeit, ein zweites Teleskop für die Verstellung einzusetzen. So ein Doppel-Teleskop gibt es heute noch nicht in der Serie“. Eine einzigartige Technologie also, die sich thyssenkrupp Steering patentrechtlich hat schützen lassen.
Entscheidende Vorteile gegenüber dem Wettbewerb
„Mit unserer Teleskoplösung haben wir einen entscheidenden Vorteil. Denn andere benötigen für die gleichen Funktionen Konzepte mit bis zu drei Antrieben. Wir benötigen nur zwei und haben damit Kostenvorteile. Auch in Bezug auf Steifigkeiten, Eigenfrequenzverhalten und vor allem Verstellgeschwindigkeiten haben wir Vorteile.“
Auch die Anforderungen an die Sicherheit sind bei einer sicherheitsrelevante Komponente wie der Lenksäule umfangreich. Sowohl ESC als auch SSC müssen aufgrund ihrer höheren Funktionalität strengere Anforderungen an die funktionale Sicherheit erfüllen. Für bestimmte Funktionen erfüllen die Systeme die höchsten Sicherheitsanforderungen.
Game Changer Software
„Von unserer Seite müssen wir sicherstellen, dass Fehler verlässlich diagnostiziert und vermieden werden“, berichtet Gerhard Waibel. „In Bezug auf die Integration unseres Systems in das Fahrzeug gibt es dabei mehrere Wege. Zum einen können wir unser System etwa über die vorhandene Fahrzeugsoftware anbinden. Zum anderen können wir unseren Kund:innen aber auch das Komplettpaket anbieten, in dem die ESC- oder SSC-Lenksäule, die Elektronik, die Aktuatoren und auch die Software enthalten sind.“ Die Software wird dabei im eigenen Software- und Entwicklungszentrum für Lenkungstechnologie in Budapest programmiert. Hier bündelt das Unternehmen die komplette Softwareentwicklung für elektromechanische Lenkungen und entwickelt dort mit mehr als 1.000 Mitarbeitenden unter anderem neue Softwarefunktionen für eine verbesserte Fahrsicherheit.
Doch die verwendete Software ist nicht nur elementar für Fahrfunktion und -sicherheit. Auch in Bezug auf den Aftersales-Service wird sie zum Game Changer: „Auf Elektronik- und Software-Seite werden wir künftig den Vorteil haben, dass wir mit sogenannten Over-the-air-Updates die Funktionalitäten verändern können“, erklärt Daniel Kreutz. „So können wir dann auch auf sich ändernde gesetzliche Freigaben reagieren und zum Beispiel für ein Level-4-Fahrzeug ein komplettes Verstauen des Lenkrads freigeben.“
Was sich ein wenig wie Science Fiction anhört, ist gar nicht so weit von der Marktreife entfernt. „Heute gibt es noch keine verstaubaren Lenksäule im Serieneinsatz. Die ersten Serienlösungen könnten wir bereits 2024/2025 sehen“, so Daniel Kreutz. „Wir befinden uns nach wie vor in der Vorentwicklung, sind aber in Gesprächen und haben zudem bereits Serienanfragen.“